Redebeitrag Frauenrat Sêvê

Liebe Freund*innen, Liebe Genoss*innen,

Am 6. Februar wurden Kurdistan, die Türkei und Syrien von einem Erdbeben heimgesucht, das Millionen von Menschen in Mitleidenschaft zog und Zehntausende von Menschenleben forderte. Der Schmerz und die Verluste, die durch dieses Erdbeben verursacht wurden, gingen weit über die Grenzen der Region hinaus, in der das Erdbeben stattfand.

Anders als in den vergangenen Jahren begehen wir den 8. März heute deswegen mit großem Schmerz, Bitterkeit und Wut. Neben unseren Angehörigen, vielen Bekannt*innen und Verwandt*innen haben wir auch unsere Freund*innen und Genoss*innen unter Trümmerhaufen verloren, mit denen wir für die Befreiung von Frauen* gekämpft haben.

Dieses Erdbeben hat uns einerseits gezeigt, wie eine faschistische Regierung durch ihren Hass an Frauen*, Arbeiter*innen, LGBTQI+ Communities, Kurd*innen und die Opposition ihre Menschlichkeit verloren hat, und andererseits hat die Naturkatastrophe uns Zeug*innen einer unglaublich großen Solidarität gemacht. Im Glauben an die Größe und Kraft dieser Solidarität und der grenzüberschreitenden Unterstützung vereinen wir uns mit dem Slogan der kurdischen Frauenbewegung und sagen: “Die Frauensolidarität hält am Leben”.

Während der heutigen Demo werden unsere Freund*innen vom Kurdischen Roten Halbmond unter euch laufen und für die Erdbebenopfer Geld sammeln. Ich danke Ihnen im Voraus für Eure Unterstützung.

Und nun, als Zeichen der Frauen*solidarität möchte ich die Erklärung der Plattform “Feministischer Nachtmarsch” (übersetzt ins Deutsch) vom 8. März verlesen, die heute Abend zum 21. Mal in Istanbul stattfinden wird.

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Am 6. Februar wurden wir von einem katastrophalen Erdbeben heimgesucht, das in 10 Städten der Türkei schwere Zerstörungen verursachte. Nach offiziellen Angaben haben bisher über 46.000 Menschen unter den Trümmern ihr Leben verloren, und die Zahlen steigen weiter an. Wir sind uns sehr wohl bewusst, dass nicht das Erdbeben für die schweren Schäden verantwortlich ist, sondern die Nachlässigkeit und die Gier nach unverdientem Geld. Obwohl wir in einem Land leben, das geografisch sehr erdbebengefährdet ist und schon viele gefährliche Erdbeben erlebt hat, wurden die notwendigen Vorsichtsmaßnahmen nicht getroffen. Was wir vor kurzem erlebt haben, war die Zerstörung durch profitorientierte Urbanisierung und eine Stadtentwicklung, die alle wissenschaftlichen Ratschläge ignoriert. Wir sind empört über den Staat, der für diesen vermeidbaren Desaster allein verantwortlich ist!

Was wir nach den Beben erlebt haben, hat auch die Unzulänglichkeit und Nachlässigkeit des Staates bei der Reaktion gegen die Katastrophen gezeigt. Die heutige Organisation des Staates, die Wissenschaft und Verdienst verachtet, hat sehr spät auf die Notlage in den Trümmern reagiert und es versäumt, die Hilfsmaßnahmen zu koordinieren. Da tagelang keine Such- und Rettungsteams in viele Gebiete geschickt wurden, starben viele Menschen, die unter den Trümmern um Hilfe riefen. Darüber hinaus behinderte der Staat die Bemühungen um zivile Solidarität, indem er den Zugang zu den sozialen Medien blockierte und den Ausnahmezustand ausrief. Sie versuchten, die gesellschaftliche Solidarität zu kriminalisieren. Heute, einen Monat nach dem ersten Erdbeben, ist der Zugang zu den Grundbedürfnissen wie Wasser, Unterkunft und Nahrung immer noch ein dringendes Problem in der Erdbebenregion.

Seit dem ersten Tag wussten wir, dass die Auswirkungen des Erdbebens auf Frauen* vielschichtig sein würden, und es dauerte nicht lange, bis wir Recht bekamen. Die Frauen* haben keine Möglichkeit, sich gegen die Gefahr von Gewalt zu wehren, und ihre Hygienebedürfnisse werden vom Staat äußerst vernachlässigt. Die Pflege und die Aufgaben in den Zelten sind zu Mühlsteinen um den Hals der Frauen* geworden. Das Schicksal vieler unbeaufsichtigter Kinder, die das Erdbeben überlebt haben, ist noch unbekannt. Und es wurde bekannt, dass viele dieser Kinder in die Obhut radikaler islamistischer Organisationen gegeben wurden, anstatt sie in staatliche Obhut zu nehmen, und dass einige von ihnen in den Krankenhäusern sexuell missbraucht wurden. Wir wurden auch Zeug*innen der Diskriminierung syrischer Flüchtlinge bei der Verteilung von Hilfsgütern für Erdbebenopfer*innen.

Als Frauen* und LGBTQI-Personen waren wir weder von dieser Zerstörung noch von der Rücksichtslosigkeit des Staates überrascht. Wir alle wissen aus erster Hand, wie menschliches Leben als wertlos betrachtet werden kann. Wir haben aus erster Hand erfahren, wie zerstörerisch der patriarchalische Kapitalismus ist. Wir kennen es aus der Tatsache, dass der Staat nie präventive und koordinierte Anstrengungen gegen geschlechtsspezifische Gewalt unternommen hat und Männer, die Gewalt ausüben, weiterhin straffrei davonkommen, während Frauen* keinen Ausweg sehen. Wir erkennen es an der gezielten Verfolgung von LGBT-Personen und an den Versuchen, Kinderehen zu legitimieren.

In diesen Zeiten sehen wir einmal mehr, dass unsere Emanzipation nur durch feministischen Kampf und Solidarität möglich ist. Als Feminist*innen aus der Türkei engagieren wir uns in der Solidarität, um den vielschichtigen Auswirkungen des Erdbebens auf Frauen* und LGBT-Menschen entgegenzuwirken und das tägliche Leben wiederherzustellen. In der Zwischenzeit wissen wir, dass unsere Emanzipation nicht stattfinden wird, bis wir eine feministische Welt aufgebaut haben, die für alle gleich und frei ist. Die Verwüstung, die wir erlebt haben, haben uns wieder einmal gezeigt, wie wichtig feministische Solidarität ist. Wir rufen alle Feminist*innen auf der ganzen Welt auf, sich mit uns zusammenzuschließen und diese Solidarität gemeinsam aufzubauen.

In diesem Jahr begrüßen wir den 8. März unter solchen Bedingungen. Und wir wissen, dass der Staat, der völlig abwesend ist, wenn es darum geht, geschlechtsspezifische Gewalt und sexuelle Übergriffe zu verhindern, die Täter zu bestrafen, das Recht auf Leben, das Recht auf Unterkunft und den Zugang zu Nahrung und Hygiene für die Menschen in den erdbebengeschädigten Gebieten zu gewährleisten, alle seine Ressourcen mobilisieren wird, um den 21. Nächtlichen Feministischen Marsch am 8. März, dem Internationalen Frauentag, zu verhindern. Doch wie jedes Jahr werden wir wieder gemeinsam auf die Straße gehen, Hand in Hand, gegen Homophobie, Transphobie, Rassismus, Ausbeutung von Arbeitskräften und die Zerstörung durch den patriarchalen Kapitalismus. Wir werden unseren Kampf, unser Leben, einander und unsere Inspiration, gemeinsam eine feministische Welt aufzubauen, niemals aufgeben!

Wir sind empört. Wir trauern. Wir sind hier. Und wir sind hier, um zu bleiben!
Wir, die Feminist*innen, revoltieren gegen die patriarchalische kapitalistische Zerstörung!

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