Am 2. Juni 1975 besetzten ca. 150 Sexarbeitende eine Kirche in Lyon, um auf ihre katastrophalen Arbeitsbedingungen aufmerksam zu machen. 45 Jahre später hat sich die Situation kaum verändert und jetzt durch die Pandemie sogar noch verschlechtert. Wir haben mit Beate und Sagitta von Nitribitt e.V. über die aktuelle Situation von Sexarbeiter*innen gesprochen.
Beate Augustin, kam 1991 von Hamburg nach Bremen um hier als Sexarbeiterin zu arbeiten. Insgesamt war Sie 12 Jahre in der Sexarbeit tätig, seitdem ist sie bei Nitribitt aktiv. Sie war von 2009 bis 2015 zudem Teil des Vorstands und seit März 2015 hat sie eine Teilzeitstelle, als Streetworkerin und Fachberatung bei Nitribitt e.V.
Sagitta Paul, arbeitet seit Dez. 2018 bei Nitribitt. Zuvor war sie in der Beratungsstelle für Betroffene von Menschenhandel beim Verein für Innere Mission und davor in der AiDs / STD-Beratung des Gesundheitsamts Bremen.
Wie ist die Situation ganz aktuell für Sexarbeiter*innen?
S: Der Lockdown für Sexarbeiter*innen gilt seit dem 18. März, seitdem haben bordellartige Betriebe, z.B. die Helenestraße im Viertel geschlossen. In Bremen haben wir vorwiegend Wohnungsprostitution, diese ist von diesen Auflagen natürlich auch betroffen. Eigentlich dürfen Sexarbeitende nicht in dem Zimmer wohnen, in dem sie auch arbeiten, dieses Verbot wurde jetzt vom Familienministerium geändert, damit die Sexarbeitenden zumindest erstmal in ihren Wohnungen bleiben dürfen. Da ist die Situation unterschiedlich, es ist zu Teil zu Mieterhöhungen gekommen und viele Klient*innen können ihre Mieten nicht bezahlen. Durch das Ausreiseverbot hatten Viele nicht mehr die Möglichkeit in ihr Heimatland zurückzukehren und sind nicht nur arbeits- sondern auch wohnungslos geworden. Insbesondere aus Bulgarien und Rumänien stammende Sexarbeiter*innen sind häufig sogenannte Armutsprostituierte, die ihre Familie und Kinder versorgen, diese finanzielle Unterstützung bricht nun weg.
B: Der Weg zurück ins Heimatland keine Lösung – dort haben sie nichts. Deshalb kommen sie auf uns als Beratungsstelle zu – wir helfen gerne mit Job- und Wohnungssuche, sind aber auch nur zu zweit.
Außerdem haben wir genauso viele deutsche Sexarbeitende, die bisher gut alleine klarkamen, bei denen aber jetzt durch die Pandemie auch das finanzielle Polster aufgebraucht ist und die nun ebenfalls unsere Unterstützung suchen. Dieser immense Zustrom ist für uns kaum noch zu schaffen, wir wissen langsam nicht mehr, wie wir mit den ganzen Anfragen umgehen sollen, wollen aber auch niemand wegschicken. Gleichzeitig haben wir ja auch noch unsere Langzeit-Klient*innen, die wir z.T. auch beim Ausstieg begleiten.
Was genau bedeutet „Ausstiegsbegleitung“?
S: Ausstieg bedeutet die Entscheidung zu einem Ausstieg aus der Sexarbeit, dafür gibt es unterschiedliche Gründe. Eine solche Ausstiegsbegleitung ist unglaublich arbeits- und zeitintensiv: erstmal geht es darum, den Lebensunterhalt der Person abzusichern. Dann fällt ja mit der Arbeit manchmal auch die Wohnung weg.
B: Es ist auch so, dass viele Sexarbeitende überfordert mit den vielen Anträgen und der Stigmatisierung durch die Behörden sind. Da verlieren viele den Mut.
S: So ein Ausstieg verläuft in der Regel nicht gradlinig. Viele Sexarbeitende müssen erstmal stabilisiert werden, sie sind möglicherweise verschuldet, es kommt zu Zwangsräumungen, sie haben Depressionen oder sind mit dem Bürokratiewahnsinn überfordert. Viele Sexarbeitende haben sich nie als solche geoutet, wenn das in den Familien herauskommt, werden die möglicherweise verstoßen. Deshalb ist eine unserer Aufgaben auch die Sexarbeitenden zu stärken.
B: Als ich als Sexarbeitende gearbeitet habe, haben in der Helenenstraße nur deutsche Frauen gearbeitet. Da bekam man Tipps im Umgang mit Freiern, über angemessene Preise und Sicherheit usw. Das hat den nicht-deutschen Sexarbeitenden keine*r erklärt. Deshalb haben wir eine Zeitlang auch so einen Preisverfall gehabt. Mittlerweile haben die Sexarbeitenden das auch gelernt und es gibt viele Menschen, die sagen: Die Prostitution ist schon das richtige für mich. Ich kann damit umgehen, ich verdiene da mein Geld und möchte nicht an der Supermarktkasse sitzen oder für irgendeine Firma putzen – sondern ich möchte Sexarbeit leisten, da bin ich selbstbestimmt und finanziell unabhängig. Und diese Personen unterstützen wir dabei, wir wollen, dass es ihnen gut geht, dass sie zurechtkommen, insbesondere auch wenn sie sich entscheiden aufzuhören. Aber wir gehen nicht hin und sagen „Prostitution ist schlecht, macht was anderes“.
Ja, zu dem Punkt: Momentan werden die Forderungen nach einem Sexkaufverbot wieder lauter. Was würde das für die Sexarbeitenden bedeuten?
B: Nicht nur für die Sexarbeiter*innen – für die wäre das natürlich der Super-Gau und ein kompletter Zusammenbruch der gesamten Existenz. Das schwedische Modell funktioniert nicht. Wir brauchen einen geregelten, vernünftigen Umgang mit Sexarbeit. Sexarbeiter*innen wissen genau, was sie tun. Personen, die freiwillig in der Sexarbeit tätig sind, brauchen bessere Unterstützung.
S: Ein Sexkaufverbot würde letztendlich auch ein Abdriften in die Kriminalität bedeuten. Im Grunde haben wir ja durch Corona schon ein Sexkaufverbot, aber wenn es dann zur Etablierung des schwedischen Modells in Deutschland kommt, wäre es fatal. Es heißt ja immer, die Frauen sollen nicht bestraft werden, die Frauen werden aber bestraft – dadurch, dass ihnen ihre Existenz genommen wird und sie bevormundet werden. Niemand fragt Sexarbeiter*innen, ob sie das auch wollen, es kommt zu einer Viktimisierung – Prostitutionsgegner*innen sagen, dass alle Sexarbeiter*innen entweder zum Sex gezwungen werden oder sie psychisch krank sind.
B: Das ist schon eine Frechheit. Man spricht den Sexarbeiter*innen ab, eine eigene Entscheidung über ihren Körper und ihr Leben treffen zu können. Menschen in der Sexarbeit – sowohl Sexarbeiter*innen als auch Freier – sind Menschen wie du und ich. Nicht alle Freier sind gewalttätig.
Habt ihr das Gefühl, dass auch jetzt schon trotz der Auflagen illegal weitergearbeitet wird?
S: Das ist wie gesagt ein Gefühl, das hast du schön gesagt. Ausschließen können wir es nicht. Noch vor dem Shutdown sind viele zurückgefahren, es trifft wie immer die ärmsten der Armen, die, die es nicht geschafft haben zurückzufahren.
B: Hier in Bremen haben wir das noch nicht gesehen, aber es ist natürlich so, dass Freier die Handynummern und Adressen der Sexarbeiter*innen haben. Oft geht es auch gar nicht um Sex – viele Freier sind vor allem im Moment einfach alleine, denen fehlt die Gesellschaft und Aufmerksamkeit. Man sollte auch nicht vergessen, dass Personen, die mit Sex ihren Drogenkonsum finanzieren auch nicht von heute auf morgen clean sind. Da gab es schon immer Schlupflöcher. Der Suchtdruck ist da, da wird man nicht drauf verzichten.
Und dadurch, dass Sexarbeit momentan generell verboten ist, nutzen manche Freier die Not aus, indem sie wohnungslosen Sexarbeitende anbieten, Sie bei sich zuhause aufzunehmen. Auch diese Sexarbeiter*innen verschwinden schlimmstenfalls im Untergrund und sind für uns nicht mehr erreichbar.
Da ist die Grenze ja gar nicht mehr ziehbar.
S: Nein, überhaupt nicht mehr. Es sind totale Abhängigkeitsverhältnisse und Machtstrukturen, die da entstehen. Und um nochmal zu der Verbotsdiskussion zurückzukehren: Es gab eine Studie, die gezeigt hat, dass nur 10% der Sexarbeiter*innen sich überhaupt mal mit dem Gedanken an einen Ausstieg beschäftigt haben. Es ist also nur ein Bruchteil der Sexarbeitenden, die aus ihrem Job aussteigen wollen und von diesem Bruchteil schafft es eben (aufgrund der vorher schon genannt Schwierigkeiten) wiederum nur ein Bruchteil das auch zu realisieren.
B: Die meisten, die in der Sexarbeit tätig sind, sind die Strukturen in anderen Arbeitsverhältnissen, morgens um 7 aufstehen, einen Vorgesetzten haben, etc. überhaupt nicht gewohnt. Wenn es dann auch noch Sprachbarrieren gibt und die notwendigen Abschlüsse für einen anderen Job fehlen, ist die Sexarbeit für viele attraktiver. Zu denen, die wirklich Opfer sind, denen die Pässe weggenommen wurden, die weggesperrt werden, etc. haben auch wir keinen Zugang. Das ist dann keine Sexarbeit, sondern ein Verbrechen, das als solches auch gesetzlich bestraft werden muss.
Was gibt es jetzt für konkrete Forderungen für den 2. Juni?
S: Was Sexarbeiter*innen in erster Linie brauchen sind Wohnräume und eine Absicherung des Lebensunterhalts – da wäre ein staatlicher Nothilfefond wichtig.
B: Anderseits wäre es wünschenswert, dass Bordelle, Massage- und SM-Studios usw. unter bestimmten Hygienevoraussetzungen wieder öffnen dürfen. Es gibt beispielsweise ein Hygienekonzept, dass der BesD (Berufsverband erotische & sexuelle Dienstleistungen e.V.) entwickelt hat. Es ist ja auch im Interesse der Sexarbeiter*innen in einem sicheren und sauberen Umfeld zu arbeiten – viele sind bereit nach diesen Regeln zu arbeiten.
Sexarbeiter*innen brauchen vernünftige Arbeitsplätze, wo Sie arbeiten und bestenfalls auch leben können, wo es Duschmöglichkeiten und ggf. einen Aufenthaltsraum gibt, in dem man sich zurückziehen kann. Einige Vermieter*innen verlangen 50,- € Tagesmiete fürs Zimmer, die totale Bruchbuden sind. Es braucht also Mindest- und erhöhte Hygienestandarts, damit Sexarbeiter*innen wieder arbeiten, Geld verdienen und ihre Kontakte sichern können. Es gibt genug Freier, die sich auf diese Hygienevorschriften einlassen würden.
S: Ganz egal, wie argumentiert wird, es wird Sexarbeitenden unterstellt, dass sie diese Hygienestandarts nicht einhalten können. Bestimmte Praktiken kann es dann natürlich nicht mehr geben – beispielsweise Oralverkehr. Aber das Sexarbeiter*innen unterstellt wird, dass sie, wenn es denn wieder losgehen würde, die „Superspreader“ wären, ist eine Frechheit. Ich weiß nicht, wie diese Diskussion ausgehen soll. Es kann immer alles gegen die Sexarbeit benutzt werden.
Dabei darf man nicht vergessen – die Sexarbeitenden wollen ja selber auch gesund bleiben. Das erinnert mich an die Diskussion um HIV: da hieß es auch schon „Die Sexarbeitenden machen es ohne Kondom“. Nein, das machen sie nicht. Wenn sie eine Wahl haben, dann werden sie ein Kondom benutzen.
B: Ich habe schon zu meiner Zeit mit Desinfektionsmittel, mit Handtuch- und Bettlakenwechsel, usw. gearbeitet. Die meisten Sexarbeiter*innen haben diesen Hygienestandart, es sind immer die Bruchbuden, in denen sowas nicht gegeben ist – und da muss man vielleicht genauer hingucken, damit die Sexarbeiter*innen die Möglichkeit haben, an einen anderen Arbeitsplatz zu wechseln, in denen ein Mindest- Standard gegeben werden kann.
Nitribitt e.V. ist der Verein für diejenigen, die freiwillig in der Sexarbeit tätig sind. Sagitta und Beate beraten, unterstützen und begleiten bei behördlichen Fragen und in Krisensituationen, klären über die Rechte und Pflichten in Bezug auf die Gesetzeslage auf, leisten politische Arbeit und begleiten Personen beim Ausstieg aus der Sexarbeit. Der Verein freut sich über neue Mitglieder und Spenden.
Gleiche Rechte für alle Arbeiter*innen!
Raus aus der Kriminalisierung!