Wir versammeln uns heute hier am Safe Abortion Day mit der Forderung: Selbstbestimmte Entscheidung für und gegen Schwangerschaft. Überall. Für alle. Sowohl das Recht auf Entscheidungsfreiheit gegen, als auch das Recht auf Entscheidungsfreiheit für Schwangerschaft, sind zentrale Forderungen im Konzept der reproductive justice, auf deutsch reproduktive Gerechtigkeit. Das Konzept wurde Anfang der 90er von US-amerikanischen Schwarzen Feminist*innen entwickelt. Diese fanden sich und ihre Erfahrungen in den bloßen pro choice Ansätzen, also dem Fokus auf die Wahlfreiheit gegen eine Schwangerschaft bzw. für einen Abbruch, nicht wieder. Sie kritisierten, dass diese Ansätze nur Positionen von weißen, nicht-be_hinderten und in Bezug auf ihre soziale Position privilegierten Menschen aufgreifen. Als Schwarze Frauen und Queers hatten sie die Erfahrung gemacht, dass sie und ihre communities eher mit gegenteiligen Problemen zu kämpfen hatten und haben: so unter anderem mit der Kopplung von sozialstaatlichen Leistungen an Sterilisierungsprogramme, mit kapitalistischer Ausgrenzung und struktureller, rassistischer Gewalt, die das Bekommen und Großziehen von Kindern erschwert bzw. unmöglich macht.
Reproduktive Gerechtigkeit umfasst deshalb neben dem Recht eine Schwangerschaft zu verhindern oder abzubrechen auch das Recht schwanger zu werden, Entscheidungen über Entbindungsmöglichkeiten zu treffen und Kinder zu haben, sowie das Recht Kinder frei von institutioneller und interpersoneller Gewalt großzuziehen. Sowohl das Recht eine Schwangerschaft abzubrechen, als auch das Recht schwanger zu werden muss allen Menschen gegeben sein!
Die Entscheidung für oder gegen eine Schwangerschaft, für oder gegen Kinder, muss vor dem Hintergrund gesellschaftlicher, ökonomischer und politischer Verhältnisse betrachtet werden. Sie ist nicht nur eine individuelle Entscheidung sondern immer auch eine politische. In der patriarchalen Gesellschaft, in der wir leben, erscheint der Zugriff auf Körper mit Uterus legitim. Dagegen kämpfen Feminist*innen schon immer!
Die Forderung nach dem Recht sich selbstbestimmt gegen Kinder, ob allgemein oder zu einem bestimmten Zeitpunkt, zu entscheiden und ungewollte Schwangerschaften abzubrechen war und ist dabei zentral. Bei unseren Recherchen haben wir festgestellt, dass die meisten der Forderungen aus den letzten Jahrzehnten oder sogar Jahrhunderten nach wie vor aktuell sind. Im Belladonna-Archiv sind wir auf die Tagebucheinträge einer praktizierenden Ärztin aus den 1920ern gestoßen. Sie beschreibt ihre Fassungslosigkeit darüber, dass so etwas Selbstverständliches wie Entscheidungsfreiheit über den eigenen Körper nicht gegeben ist. Heute sind wir immer noch genauso fassungslos, dass sich daran 100 Jahre später wenig geändert hat! Genauso könnten wir hier einen Text aus den 1980ern vorlesen und es würde wahrscheinlich kaum auffallen. Denn leider hat sich grundlegend nicht viel getan in den letzten Jahrzehnten: Nach wie vor ist die aktuelle Versorgungssituation in Deutschland prekär. Nach wie vor gibt es den Paragrafen 218, der Schwangerschaftsabbrüche kriminalisiert und den Paragrafen 219a, der das Informieren darüber unter Strafe stellt. Nach wie vor gibt es eine enorme gesellschaftliche Stigmatisierung von Menschen, die abtreiben wollen oder abgetrieben haben. Nach wie vor scheint es nicht gesellschaftlicher Konsens zu sein, dass der eigene Körper nur der eigenen Entscheidung unterliegen sollte!
Schwangerschaftsabbruch steht unter Paragraf 218 als Straftat im Strafgesetzbuch – gleich hinter Mord und Totschlag. Abtreibungen sind in Deutschland also nicht legal, außer wenn die Schwangerschaft die Gesundheit der schwangeren Person bedroht oder aus einer Vergewaltigung hervorgeht. Ansonsten gelten sie als kriminelle Handlung der schwangeren Person und der durchführenden Mediziner*innen. Nur unter bestimmten Bedingungen sind sie straffrei. Dies knüpft an Debatten über den Beginn des menschlichen Lebens, der vermeintlich bereits bei einem Zellklumpen liegt, an und führt dazu dass Abtreibungen ein enorm moralisch aufgeladenes Thema und mit Stigmatisierungen verbinden sind. Der Embryo wird als unabhängiger Rechtsträger inszeniert, der gegen die egoistischen Interessen der schwangeren Person verteidigt werden müsse, die ihren “mütterlichen Pflichten” nicht nachkomme. So wird auch in den Gesetzestexten eine vermeintliche “Austragungspflicht” konstruiert, deren Grundlage letztlich extrem veraltete, sexistische Geschlechterrollen sind. Elementar für diese Rollen wiederum ist die Konstruktion von Geschlecht als binär und biologisch determiniert, woraus folgt, dass alle Personen mit Uterus Frauen seien und ihre Erfüllung in der Mutterrolle finden würden. Eine Entscheidung gegen Kinder wird folglich als “unnatürlich” und notwendigerweise traumatisierend dargestellt.
Doch das Recht der Entscheidung über den eigenen Körper obliegt allein der schwangeren Person! Der Embryo oder Fötus ist Teil des Körpers der schwangeren Person und lässt sich nicht von dieser getrennt betrachten. Deshalb kann dieser auch kein unabhängiges “Lebensrecht” haben.
Um das Selbstbestimmungsrecht der schwangeren Person zu gewährleisten sind Reformen letztlich wenig hilfreich. Es braucht die vollständige Entkriminialisierung von Schwangerschaftsabbrüchen und dem Informieren darüber! Wir fordern deshalb die Abschaffung der Paragrafen 218 und 219a! Schluss mit dem sexistischen Müll! Schluss mit der Stigmatisierung! My body, my choice!
Dabei ist uns wichtig zu betonen: Es geht nicht nur um Frauen, denn nicht alle Frauen können schwanger werden und nicht nur Frauen werden schwanger – sondern auch trans* Männer, inter* und nichtbinäre Personen. Wir fordern: Alle Schwangeren müssen das Recht auf und den Zugang zu einem sicheren Schwangerschaftsabbruch haben! Neben der Geschlechtsidentität dürfen auch Alter, sozialer und ökonomischer Status, Be_hinderung, Weltanschauung, rassistische Zuschreibungen, Aufenthaltsstatus und Sexualität keine Rolle spielen!!!
Aktuell ist es so, dass viele Regelungen das Selbstbestimmungsrecht von Schwangeren einschränken. Ohne medizinische oder kriminologische Indikation ist ein Abbruch nur bis zur 12. Schwangerschaftswoche straffrei und es besteht eine Beratungspflicht. Diese Zwangsberatungen, die laut Gesetz „dem Schutz des ungeborenen Lebens dienen“ aber gleichzeitig ergebnisoffen sein sollen, bedeuten, dass Schwangere sich für ihren Wunsch abzutreiben rechtfertigen müssen und entmündigt sie. Wir fordern deshalb die Abschaffung der Beratungspflicht und stattdessen freiwillige und tatsächlich ergebnisoffene Beratungsangebote!
Was die Kosten für einen Abbruch nach Pflichtberatung angeht, so werden diese nicht von den Krankenkassen übernommen, sondern müssen zu häufig von der schwangeren Person getragen werden. Dies kann bei Kosten bis zu 600,- eine enorme Hürde für eine selbstbestimmte Entscheidung darstellen. Wir fordern: Schwangerschaftsabbruch muss medizinische Grundversorgung sein und Menschen unabhängig von ihrem ökonomischen Status zugänglich sein. Das heißt: bedingungslose Kassenleistung werden!
Nicht zuletzt aufgrund der Kriminalisierung von Abbrüchen und der gesellschaftlichen Stimmung ist auch die medizinische Versorgungssituation extrem prekär. Dieser Zustand schränkt auf einer weiteren Ebene das Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren ein, da der Zugang zu einem Abbruch nur schwerlich allen gewährleistet werden kann. Aktuell gibt es in Deutschland einen krassen Mangel an Ärzt*innen, die bereit sind einen Schwangerschaftsabbruch durchzuführen und überhaupt das entsprechende Fachwissen dazu haben. Denn in der medizinischen Ausbildung werden Schwangerschaftsabbrüche – da sie Straftaten sind und als “unmoralisch” abgewertet werden – gar nicht oder kaum thematisiert und gelehrt. Eine diesbezügliche Weiterbildung muss zum Einen selbst gezahlt werden und zum Anderen in den ohnehin schon straffen Zeitplan von Mediziner*innen integriert werden, was wiederum nur Wenigen möglich ist.
In Bremen und im Umland gibt es absolut keine ausreichende bzw. zufriedenstellende Versorgungssituation. Schwangere Menschen von der gesamten Nordseeküste, aus Bremen, Bremerhaven und Niedersachsen sollen in einem profamilia Zentrum und von fünf niedergelassenen Gynäkolog*innen ausreichend und direkt versorgt werden?! Das reicht nicht aus!
Wir fordern: Sichere Zugänge zu Schwangerschaftsabbrüchen überall! Dazu braucht es eine viel höhere Versorgungsdichte! Als medizinische Dienstleistung muss Schwangerschaftsabbruch in den medizinischen Lehrplan integriert werden und selbstverständlicher Teil der Ausbildung von Gynäkolog*innen sein.
Genauso wie manchen Menschen ein Schwangerschaftsabbruch extrem schwer gemacht wird und sie quasi dazu genötigt werden schwanger zu werden/zu bleiben und Kinder zu bekommen, werden gleichzeitig viele Menschen strukturell davon abgehalten, Kinder zu bekommen und zu betreuen. Dies betrifft insbesondere Menschen, die von Ableismus (d.h. struktureller Diskriminierung und Be_hinderung von Menschen in Bezug auf Fähigkeiten), Queerfeindlichkeit bzw. Hetero-/Cis-/Dya-Normativität (d.h. der Vorstellung, dass alle Menschen hetero seien, sich mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht identifizieren und ihre Körper eindeutig Geschlechternormen von Mann und Frau entsprechen würden), Klassismus (d.h. struktureller Diskriminierung und Marginalisierung in Bezug auf soziale und/oder bildungspolitische Position) und Rassismus betroffen sind.
Menschen, die be_hindert werden, werden ihre sexuelle Selbstbestimmung und ihre reproduktiven Rechte abgesprochen. Sie werden beispielsweise viel häufiger als nichtbe_hinderte Menschen sterilisiert oder bekommen quasi zwangsweise Verhütungsmittel. Beides geschieht oftmals ohne ihre explizite Zustimmung, da ein Vormund für sie entscheiden darf oder Wissen über sexuelle Selbstbestimmung schwer zugänglich ist. Grundsätzlich wird diesen Menschen oft nicht zugetraut Kinder betreuen zu können oder es herrscht die Angst vor, dass die Kinder die Behinderung erben könnten, was verhindert werden soll. Das offenbart die ableistischen Strukturen unserer Gesellschaft auf ziemlich brutale und ekelhafte Weise. Ähnlich werden diese ableistischen Denkmuster auch bei Abtreibungen nach Pränataldiagnostik deutlich, wenn den Eltern nahe gelegt wird, ein be_hindertes Kind abzutreiben.
Klassistische Familienpolitiken erschweren ökonomisch deprivilegierten Menschen die Familiengründung. So wird beispielsweise das Elterngeld beim Bezug von Hartz IV de facto nicht gezahlt. Und wenn diese Personen Kinder bekommen (wollen), sind sie mit klassistischen Narrativen konfrontiert, die ihnen absprechen, diese Entscheidung bewusst zu treffen oder unterstellen, dass die Entscheidung aus finanziellen Interessen getroffen würde.
Genauso wie rassistische Diskurse, die nicht-weiß-privilegierte Familien und ihre Reproduktion abwerten. Die Diskriminierung von BIPoC-Familien beruht auf der rassistischen Annahme, dass nur weiße Deutsche wertvolle, erwünschte Mitglieder der Gesellschaft seien. Auch räumliche Trennung durch Verbot von Familiennachzug oder ungesicherten Aufenthaltsstatus erschweren die sichere Planung von Schwangerschaft und Geburt. Wir solidarisieren uns heute auch besonders mit allen Schwarzen Eltern, denen hier in Bremen vom Standesamt die Geburtsurkunden für ihre Kinder verweigert werden.
Auch queeren Personen wird durch rechtliche und finanzielle Hürden die Familiengründung erschwert. Anstatt, dass wie bei cis-hetero Paaren das Kind sofort als Kind der Eltern eingetragen wird (ohne Nachweis) muss die nicht-schwangere Person in queeren Beziehungen das langwierige und übergriffige Verfahren der sogenannten “Stiefkindadoption” durchlaufen. Leihmutterschaft beispielsweise ist nicht einmal legal. Noch dazu begegnen queere Familien in ihrem Alltag ständig heterosexistischen Narrativen, die besagen, dass Kinder eine Mutter und einen Vater bräuchten, um sich gesund zu entwickeln. Familienmodelle mit mehr oder weniger als zwei Elternteilen werden gesellschaftlich abgewertet, als unpraktikabel erklärt oder gar nicht erst anerkannt.
Trans* Personen, die schwanger sind oder werden wollen, machen immer wieder die Erfahrung, in ihrer Geschlechtsidentität nicht angenommen zu werden. Die Schwangerschafts- und Geburtsbegleitung ist nur auf Frauen als schwangere und gebärende Personen eingestellt. Angebote für schwangere Menschen, die nicht weiblich sind, sind quasi inexistent. In der Geburtsurkunde ihres Kindes werden trans* Eltern absurderweise auch nach einer Vornamens- und Personenstandsänderung mit dem alten Namen und Personenstand eingetragen. Und wenn der Personenstand “divers” lautet und nicht in dieses binäre Bild passt, weigert sich das Standesamt unter Umständen auch einfach mal komplett, die Person als Elternteil anzuerkennen und in die Geburtsurkunde einzutragen.
Wenn wir über reproduktive Gerechtigkeit sprechen, müssen wir auch über Zwangssterilisationen von trans* und inter* Personen sprechen. Denn ja, in Deutschland mussten sich trans*Personen noch bis 2011 einer Zwangssterilisation unterziehen, um ihren Personenstand ändern zu dürfen. Und an inter* Personen werden heute immer noch – ohne deren Einwilligung, häufig schon kurz nach der Geburt – geschlechtsverändernde Operationen durchgeführt, um sie in eine biologistische, zweigeschlechtliche Norm zu pressen. Im Zuge dieser gewaltvollen Eingriffe wird inter* Personen durch Zwangssterilisationen oder andere Operationen häufig von Vornherein die Möglichkeit genommen, Kinder zu bekommen!
Trans* sein, inter* sein, queer sein, be_hindert werden, Schwarz oder of color sein wird nach wie vor als krankhafte Abweichung von der Norm dargestellt. Und wer krank ist, so das Narrativ, darf keine Kinder in die Welt setzen, sonst werden diese auch noch krank. Denn der Staat will schließlich einen gesunden Volkskörper! So weit, so ekelhaft. Deutlich wird: Bei diesem Thema lässt sich eine direkte Brücke zu Bevölkerungspolitik schlagen. Hier wird ganz deutlich, wer sich für den deutschen Staat vermehren soll und wer nicht, wer als erwünschtes Leben gilt und wer nicht, wer in der Produktion von Nachkommen gefördert werden soll und wer nicht. Deutschland wünscht sich Kinder von weißen, dya-cisgeschlechtlichen, heterosexuellen, nicht-behinderten Akademiker*innen. Da können wir nur kotzen. Wir hingegen fordern eine solidarische Gesellschaft, die alle Formen des Elternseins akzeptiert und Unterstützung für alle Eltern leistet: unabhängig von ihrer Identität!!!
Wir fordern eine Gesellschaft in der selbstbestimmte Entscheidungen für und gegen Schwangerschaft möglich sind – und zwar überall und für alle!!!